Dass Österreichs Neutralität angesichts einer drohenden Abwendung der USA von Europa und dem damit verbundenen Ende der amerikanischen Sicherheitsgarantien für den alten Kontinent nicht mehr Teil der Lösung ist, sondern Teil des Problems ist, gestehen heute selbst grüne und sozialdemokratische Politiker immer öfter ein – allerdings immer nur hinter vorgehaltener Hand. Öffentlich auszusprechen, was jedem auch nur halbwegs vernunftbegabtem Menschen klar sein muss, nämlich dass die Neutralität uns gegenwärtig mehr schadet als nützt und deshalb besser heute als morgen entsorgt werden sollte, das traut sich praktisch keiner der relevanteren politischen Akteure. Selbst die neue Außenministerin Beate Meinl-Reisinger von den Neos, gemeinhin nicht als glühende Anhängerin der Neutralität bekannt, meint jetzt nur, dass eine Diskussion darüber „nicht sinnvoll“ sei. Warum eigentlich?

Der Stärkere pfeift auf Neutralität

Dabei ist die Sache nicht wirklich besonders kompliziert. Es ist historisch erwiesen, dass der Status der Neutralität noch nie einen entschlossenen Aggressor davon abgehalten hat, einen Neutralen anzugreifen. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist voller derartiger Fälle, daraus nichts zu lernen ist schlicht und ergreifend töricht und verantwortungslos.

Das gilt um so mehr, als wir gerade am Übergang von einer regelbasierten Weltordnung zu einer neuen globalen Architektur stehen, in der schlicht und einfach das Recht des Stärkeren gilt. Man mag das bedauerlich finden, aber so zu tun, als gäbe es diese neue Wirklichkeit nicht, ist einfach abgrundtief dumm. Wer so handelt, agiert wie ein kleines Kind, das sich die Hände vor die Augen hält und ausruft „Juhu, jetzt sieht mich niemand“. Doch der Status der Neutralität ist nicht nur als Schutz vor einem allfälligen militärischen Angriff wertlos, er schränkt auch die Möglichkeiten des Landes massiv ein, sich künftig an militärischen Allianzen zu beteiligen, die heute erst vage absehbar sind, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit künftig für Sicherheit in Europa sorgen werden.

Verbündet oder allein

In der Schweiz mit ihrer – im Gegensatz zu uns – jahrhundertealten Tradition der Neutralität wird deshalb auch schon jetzt, anders als in Österreich, schon eine ernsthafte Diskussion zu diesem Thema geführt. „Trump droht, Europa an Putin auszuliefern. Der Schutzring um die Schweiz beginnt zu bröckeln. Sie wird sich entscheiden müssen, ob sie sich militärisch mit ihren Nachbarstaaten verbündet oder in einer gefährlichen Welt schon bald allein dasteht,“ schrieb etwa dieser Tage die hochseriöse NZZ, und schlussfolgerte, „Es geht nicht darum, dass die Schweiz nun den Antrag stellt, in die Nato aufgenommen zu werden… Aber was spräche dagegen, wenn sie sich mit signifikanten Kräften – etwa der Luftwaffe und der Panzertruppe – an einem europäischen Verteidigungsbündnis mit etwa Deutschland, Großbritannien, Italien, Polen und Frankreich beteiligte?“ Das macht erstens Sinn und wäre natürlich das Ende der schweizerischen Neutralität.

Österreich sollte den gleichen Weg gehen, mit dem Unterschied, dass wir derzeit im Gegensatz zur Schweiz praktisch (noch) nichts haben, was wir eine Verteidigungs-Allianz der willigen Europäer einbringen könnten. Eine ernsthafte Sicherheitspolitik für Österreich stünde daher auf zwei Schienen: einerseits schneller Hochrüstung auf ein seriöses Niveau, andererseits intensive Zusammenarbeit mit unseren europäischen Partnern. Abgesehen von ein paar überfälligen Investitionen ins Bundesheer ist davon im aktuellen Regierungsprogramm leider nichts zu finden. Ganz im Gegenteil: anstatt die Neutralität wenigstens zu relativieren, wird ihr weiter gehuldigt wie irgendeinem obskuren Fetisch bei Naturvölkern.

Kein Mut und keine Kraft

Mit Recht kritisierte das jüngst der ehemalige österreichische Spitzendiplomat und renommierte Analytiker Stefan Lehne so: „Warum wirkt das Programm der neuen Bundesregierung so aus der Zeit gefallen? Man kann davon ausgehen, dass sich die Verhandlungsteams der heutigen brennenden Probleme Europas durchaus bewusst sind. Aber offenbar fehlten ihnen die Kraft und der Mut, die notwendigen Konsequenzen für die österreichische Außen- und Europapolitik zu ziehen. Da war es bequemer, so zu tun, als könnte in diesen Bereichen alles wie bisher weiterlaufen. Diese Hoffnung wird sich mit Sicherheit nicht erfüllen.“ („Standard“, 5.3.2025)

Der Diplomat Lehne trifft da den entscheidenden Punkt. Die große Mehrheit der Österreicher glaubt wirklich, die Neutralität würde und Schutz bieten vor allfälligen Aggressoren. Es wäre daher die verdammte Pflicht der politischen Klasse, die ja weitgehend weiß, wie illusorisch das ist, den Menschen eben geduldig zu erklären, warum die Neutralität obsolet geworden ist.

Die Angst vor dem Wähler

Aber wie sollen die Vertreter zweier ehemalige Großparteien, die beide davor zittern, bei allfälligen Wahlen nur noch 15 % zu bekommen, bei vollem Bewusstsein und ohne Narkose das Risiko eingehen, dank einer Neutralitätsdebatte nochmals fünf Prozent zu verlieren? Natürlich arrangieren sich diese Leute, die übrigens durchwegs ja auch nicht gerade die A-Liga der Politik sind, lieber schmierig mit dem Status Quo, aus Mangel an Kraft und Mut.

Zu hoffen, es werde trotzdem schon alles irgendwie gut gehen, mag eine sehr österreichische Haltung sein. Aber sich aus Feigheit, mangelnder Kompetenz und fehlendem Mut darauf zu verlassen, das ist das genaue Gegenteil von jenem Versprechen, mit dem die Regierung ihr Programm überschrieben hat, nämlich „Jetzt das Richtige tun“.