
Europa taumelt – und die Eliten schauen weg
Ex-Verteidigungsminister Scheibner und Politologe Schöllhammer rechnen auf exxpressTV mit Europas Staatenlenkern ab: Ein Kontinent im freien Fall, ein Sicherheitsapparat am Tropf der USA – und eine Politik, die sich lieber in Träumereien verliert.

Einst war Europa eine weltpolitische Macht mit globalem Einfluss. Heute wirkt der Kontinent wie ein unsicherer Zaungast, der zunehmend außen vor bleibt. Kann Europa seine Sicherheit noch selbst garantieren – oder ist es längst zu einem machtlosen Beiwagen US-amerikanischer Interessen geworden?
Unter der Moderation von exxpress-Redakteur Stefan Beig analysieren der Politikwissenschaftler Prof. Ralph Schöllhammer und der frühere österreichische Verteidigungsminister und heutige Präsident des Europäischen Instituts für Terrorismusbekämpfung und Konfliktprävention (EICTP) Herbert Scheibner schonungslos den Zustand Europas.
„Alles auf Pump, aber ohne Plan"
Herbert Scheibner findet deutliche Worte: „Europa wird außerhalb seiner Grenzen nicht mehr als sicherheitspolitischer Akteur wahrgenommen. Man betrachtet uns wie einen alten Herrn, den man wegen seiner Verdienste respektiert, aber der in der Gegenwart besser still sein sollte.“
Auch Ralph Schöllhammer sieht in Europas Auftreten ein alarmierendes Zeichen von Schwäche und Realitätsverlust: „Europa ist wie ein 80-Jähriger, der das Erbe der Vergangenheit verschleudert, während er wie ein besoffener Matrose die Zukunft verjubelt. Alles auf Pump, aber ohne Plan.“
Dass Europa heute in vielen Fragen nicht mehr ernst genommen wird, liegt für beide Experten an jahrzehntelanger Selbstzufriedenheit und mangelndem strategischem Denken. „Seit den 1990ern lief Europa auf Autopilot. Niemand musste geopolitisch denken, alles funktionierte irgendwie“, erklärt Schöllhammer. Doch diese Zeiten seien vorbei: „Jetzt erleben wir eine Zeitenwende. Deals müssen verhandelt werden, Qualität der Diplomaten zählt wieder.“
Scheibner ergänzt: „In den 1990ern verschlief man alles. Während die Welt sich veränderte, beschäftigte sich die EU mit sich selbst.“
„Politisch schwach und wirtschaftlich träge"
Auch militärisch sehen die beiden Europa am Abgrund. Scheibner kritisiert: „Europa hat nicht einmal im eigenen Kontinent Ordnung geschaffen. Die Balkankriege sind bis heute ungelöst. Die Digitalisierung wurde komplett verschlafen. Jetzt brüsten wir uns mit Regulierung von KI, während andere Innovation betreiben.“
Ralph Schöllhammer fasst trocken zusammen: „Europa ist politisch schwach, wirtschaftlich träge und sicherheitspolitisch nicht existent. Und wir regen uns auf, wenn die USA uns nicht mehr alles abnehmen wollen.“
Den oft beschworenen Begriff „strategische Autonomie“ halten beide für eine Illusion – zumindest unter den aktuellen Rahmenbedingungen. „Mehr europäische Eigenverantwortung ist notwendig, aber niemand sollte glauben, dass man in zwei Jahren dreißig Jahre Versäumnisse aufholen kann“, warnt Scheibner. „Satelliten, digitale Aufklärung, Kommunikationsnetzwerke – das alles fehlt Europa. Wer meint, 100 Panzer würden reichen, hat das 21. Jahrhundert nicht verstanden.“
Auch Schöllhammer betont: „Die Europäer wollen strategische Autonomie, aber ohne Preis. Autarkie kostet. Mehr Geld fürs Militär, eventuell Rückkehr der Wehrpflicht. Aber das will niemand aussprechen.“
Milliarden für die Ukraine, nicht für Europa
Ein weiteres Thema ist die Neutralität, die heute eigentlich Bündnisfreiheit ist, und in ihrer früheren Form nicht mehr existiert. „Die Neutralität, wie sie österreichische Politiker predigen, gibt es seit 1998 nicht mehr. Mit der Teilnahme an EU-Friedenseinsätzen wurde sie de facto abgeschafft“, so Scheibner. Schöllhammer nennt sie „bequeme Nostalgie“ und spricht von einem „Wunsch nach Verantwortungslosigkeit“.
Auch die Wahrnehmung von Sicherheit habe sich verschoben. „Die Menschen sorgen sich nicht primär wegen Russland, sondern wegen Messerstechereien in Favoriten und Terroranschlägen in Villach“, sagt Scheibner. „Trotzdem ist innere und äußere Sicherheit kein Entweder-oder.“ Schöllhammer ergänzt: „Die Menschen haben das Gefühl, für die Ukraine gibt es Milliarden, aber für ihre Sicherheit zu Hause keinen Cent.“
Utopien statt Lageanalyse
Was Europa nun braucht, ist für beide klar: eine ehrliche strategische Neuausrichtung. „Wir brauchen eine ehrliche Lageanalyse, eine Strategie, eine Definition europäischer Interessen“, fordert Scheibner – und Schöllhammer warnt: „Es gibt diesen Satz: ‚Was, wenn eine Zeitenwende kommt, aber niemand bereit ist, sich zu drehen?‘ Genau da steht Europa.“
Für Scheibner steht fest: „Europa hat unglaubliches Potenzial. Aber wir brauchen Mut zur Realität. Und Politiker, die nicht ihre Utopien über die Realität stülpen, sondern das Land auf Kurs bringen“.
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